Baugesuche werden durch die Baubehörde grundsätzlich nur nach öffentlich-rechtlichen Kriterien beurteilt. Eine Baubewilligung wird erteilt, wenn das geplante Bauvorhaben den öffentlich-rechtlichen Vorschriften, in erster Linie dem kommunalen Baugesetz und dem Raumplanungsgesetz Graubünden (KRG), entspricht. Im Einzelfall ist bei Abweichungen eine Ausnahmebewilligung möglich, sofern die Einwilligung des betroffenen Nachbarn vorliegt. Eine solche Nachbarschaftsregelung kann insbesondere die Verkleinerung (Näherbaurecht) oder gänzliche Aufhebung (Grenzbaurecht) der gesetzlichen Grenzabstände zum Gegenstand haben. Es muss aber beachtet werden, dass die Baugesetze der Bündner Gemeinden neben dem Grenzabstand zusätzlich auch noch einen Gebäudeabstand definieren, der beachtet werden muss (Brandschutz, Wohnhygiene etc.). Der Minimalabstand zwischen zwei Gebäuden beträgt nach Art. 75 Abs. 2 KRG 5,00 m (falls das Baugesetz der Gemeinde keinen grösseren Abstand vorschreibt). In den Gemeindevorschriften wird in der Regel als Gebäudeabstand die Summe der einzuhaltenden (zonenabhängigen) Grenzabstände verlangt (was der Formulierung des Musterbaugesetzes der Bündner Vereinigung für Raumentwicklung entspricht).
Beispiel
Auch wenn sich zwei Nachbarn mit gegenseitigen Näherbaurechten das Recht einräumen, je bis auf 1,00 m an die gemeinsame Grenze bauen zu dürfen, gilt bei einem baugesetzlichen Grenzabstand von 4,00 m dennoch ein minimaler Gebäudeabstand von 8,00 m (2 × 4 m), dessen einvernehmliche Unterschreitung im Einzelfall mit Ausnahmegenehmigung der Baubehörde möglich ist, falls und soweit keine überwiegenden öffentlichen Interessen entgegenstehen. Der Gebäudeabstand kann demzufolge die beidseitige Umsetzung der vereinbarten (gegenseitigen) Näherbaurechte ausschliessen.
Das Bundesgericht hat kürzlich in einem Verfahren aus dem Kanton Glarus, in dem ein Nachbar gestützt auf ein gegenseitiges Näherbaurecht die Ausführung eines öffentlich-rechtlich bereits bewilligten Bauvorhabens zivilrechtlich verbieten lassen wollte, folgenden Entscheid gefällt: «Ergibt sich weder aus dem Vertragstext [des Dienstbarkeitsvertrages] selber noch aus den weiteren (objektiv erkennbaren) massgeblichen Umständen, dass die Vertragsparteien mit der Einräumung eines gegenseitigen Näherbaurechts eine Abrückungspflicht in dem Sinne vorgesehen haben, dass beide gleichermassen vom gegenseitig eingeräumten Näherbaurecht profitieren können, darf der Erstbauende von seinem Recht Gebrauch machen und kann der nichtbauende Dienstbarkeitsbelastete und -berechtigte die Realisierung der Baute nicht mit dem Argument verhindern, ihm sei wegen öffentlich-rechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften die Nutzbarmachung «seines» Näherbaurechts verwehrt.»
Fazit und Empfehlung
Wenn Nachbarn für die Realisierung von Bauvorhaben untereinander eine flexible Gestaltung der Bauabstände anstreben, ist beim Abfassen der (gegenseitigen) Näher- oder Grenzbaurechte unbedingt das Thema der Kollision einer Unterschreitung der Grenzabstände mit dem gesetzlichen Gebäudeabstand zu regeln. Welches sollen die Konsequenzen eines Näherbaurechts des Nachbarn für den Erstbauenden sein? Trifft diesen eine Abrückungspflicht (um eine koordinierte Beachtung des gesetzlichen Gebäudeabstands zu gewährleisten) oder kann der Erstbauende – nach dem Motto «Dr Schneller isch dr Gschwinder» – Fakten schaffen, die den Zweitbauenden trotz seines Näher- oder Grenzbaurechts dazu zwingen, den gesetzlichen Gebäudeabstand dann bei seiner (Zweit-)Baute vollständig einzuhalten? Gemäss der zitierten Bundesgerichts-Praxis wird nämlich der Zweitbauende ohne eine klare Vertragsregelung bzw. ohne eindeutige Umstände «bestraft».



